Der Pickel, der alles veränderte

Konrad Neuwirth
3 min readDec 21, 2018

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Ich muss etwa zwanzig gewesen sein, da hatte ich einen Pickel. Gut, ich hatte auch vorher schon Pickel (gar nicht so wenig), hatte nachher auch wieder Pickel und hatte auch mit zwanzig mehr als nur diesen einen Pickel. Aber trotzdem: dieser eine ist besonders. Denn er hat mein Leben verändert.

Er war an der Grenze zwischen meiner Unterlippe und der umliegenden Haut, und sah soweit normal aus. Wie man das so tut, habe ich ihn ausgedrückt — und dann kam da die Neugier. Ich wollte wissen, wie tief dieser Pickel eigentlich geht. Also nahm ich ein langes, dünnes Ding (ich glaube, es war eine Nadel, aber an den Teil kann ich mich nicht mehr so genau erinnern) und … steckte es hinein. Oh! Ganz schön tief.

Aua.

Und an der Stelle muss ich wohl was kaputt gemacht haben. Im Lauf der nächsten Tagen schwoll meine Lippe sehr stark an (war am Schluss etwa zwei Finger dick), ich bekam hohes Fieber und war generell irgendwie nicht mehr so gut drauf. Aber es war nichts, was sich nicht durch vierzehn Tage im Krankenhaus reparieren ließ — bis auf eine kleine Narbe an der Stelle, wo der Pickel ursprünglich war.

Alle machten sich Sorgen um mich. Es war ein ziemliches Tohuwabohu, mit Besuchen im Krankenhaus und überhaupt. Wäre es da nicht sehr peinlich, zugeben zu müssen, dass ich selbst an der Situation Schuld trug? Hätte ich nicht in den Pickel gepiekst, es wäre mir doch sicher alles erspart geblieben! Nein, das dürfe nie jemand erfahren, da war ich mir sehr sicher. Also versprach ich mir hoch und heilig, diesen Teil der Geschichte — dass ich da neugierig war — nie auch nur einer Menschenseele zu erzählen.

Und da ist sie: die Scham. „Das tut man nicht.“ „Das kannst Du doch niemandem erzählen.“ Ja, genau. Immer wieder befürchten, dass es rauskommt. Oh, was dann alle doch von mir denken. Was ich dann für einer bin, wenn das … Und dann kam zur Scham wegen des eigentlichen Ereignisses die Scham, wie ich mich verhalte. Dass ich nicht dazu stehe, was ich getan habe. Dass ich Leute was vormache. Dass ich doch gar nicht so bin, wie alle von mir glauben. Dass da Sachen sind, die … Ja.

Fünfundzwanzig Jahre habe ich das jetzt mit mir herumgeschleppt. Ein Kind, das geboren wurde, als ich im Krankenhaus war, hat mittlerweile Abitur gemacht, studiert, hat vielleicht den ersten Fulltime-Job oder ist selbst Elternteil. Und die Scham konnte in mir wirken.

Vor ein paar Tagen habe ich das erste Mal jemandem davon erzählt. Habe ich mir ein Herz gefasst, habe mein eigenes Wort gebrochen — was, zugegeben, auch echt nicht so einfach war — und habe dem ersten Menschen je erzählt, dass ich mich da selbst ins Krankenhaus gebracht habe. Und die Reaktion war: „Na und?“ Kein Weltuntergang. Kein Blitz, kein Donner, kein „Du schrecklicher Mensch, wie konntest Du nur!“, kein Verschwinden aus meinem Leben. „Na und?“ Ja. Na und. Heute kann ich sehen: Das ist echt nicht so wirklich schlimm, was da steht. Ich habe mit einem befreundeten Arzt gesprochen, der nur meinte: „Du glaubst gar nicht, was ich alles sehe, was Menschen mit ihrem eigenen Körper so anstellen. Sehr viele Menschen pieken so in Pickeln. Du hattest nur einfach Pech.“

Dadurch, dass ich dieses Ereignis und meine Gefühle drumrum so überhöht habe, wirkte alles groß. Dadurch, dass ich es ausgesprochen habe, als etwas aus meinem Leben erzählt habe, ist es nicht mehr so ein einzelnes Ding, dass meinen Blick verstellt, sondern nimmt seinen Platz im Horizont ein, relativiert sich — ist es einfach eines der vielen Erlebnisse in meinem Leben.

Für mich gesagt: Scham ist etwas sehr Persönliches. Etwas sehr Intimes. Scham ist mächtig. Sie fürchtet das Licht, sie steuert mich davon weg. Aber mit Licht konnte ich sie besiegen, und dieser Moment meines Lebens hat nicht mehr die Macht.

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Written by Konrad Neuwirth

Reads way more than he writes, but talks more than he listens. Professional geek interested in humans, humanity and society.

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